Ein kleines Mädchen hält ihre Hand an ein selbtgemaltes Maßband, um ihre Größe zu messen. Dabei lacht sie glücklich

In der Amerikanischen Chiropraktik gibt es seit Anbeginn ein hohes Interesse an korrekten Befundlagen. D. D. Palmer sowie B. J. Palmer entwickelten als Vater und Sohn zum Wechsel vom 19. bis in das 20. Jahrhundert hinein die Grundprinzipien der Chiropraktik. Besonders B. J. Palmer ging in der zweiten Generation sehr technikaffin vor. Denn Verläufe sauber zu dokumentieren, zeigt, ob sich das Patient*innenwohl messbar verbessert. Dieser Artikel beleuchtet, wie wir diesen Gedanken weiter in unserer Praxis verfolgen.

Fokus unseres Handelns in der Chiropraktik Manufaktur Kaufmann ist die sogenannte Lifetime Care. Dafür richten wir die chiropraktische Behandlung immer am individuellen Menschen aus. So wollen wir unseren Beitrag leisten, dass dessen gesamtes System unter Einbezug der neurologischen Konstitution sich selbst immer wieder bestmöglich in Balance bringen kann.

Unter diesem Vorzeichen sind die Routinen in unserer Praxis entstanden: von der Erstanamnese (mehr dazu in unserer Podcast-Episode 12) über die Justierungen bis hin zu den Nachuntersuchungen. Nächstes Jahr bin ich als Chiropraktiker 30 Jahre im Einsatz und natürlich habe ich in dieser Zeit viele Variationen zum Thema Gestaltung der Erstaufnahme sowie der weiteren Betreuung von Patientinnen und Patienten kennengelernt, ausprobiert und modifiziert. Viele Jahre vor dem Studium der Chiropraktik an der Donau Universität Krems habe ich unter anderem auch eine Osteopathie-Ausbildung in Frankreich gemacht.

Meine Überzeugung aus diesen 30 Jahren Tätigkeit lautet: Das Selbstverständnis zu glauben, wir hätten irgendein Recht darauf, dass der Körper immer gleich gut funktioniert, ist ein Phänomen der aktuellen Kulturperiode. Ganz im Sinne der beständigen Selbstoptimierung, die wohl eher an Selbstausbeutung grenzt. Denn im Verlauf des Lebens verändert sich die eigene Leistungsfähigkeit naturgegeben.

Jahrzehnt-Verschaltungen

Biologisch betrachtet hat jeder Körper verschiedene Phasen: Wir haben zunächst unsere Baby-, Kindheits- und Jugendphase mit den Herausforderungen des Entstehens und Aufwachsens. Als junge Erwachsene funktioniert das System dann in der Regel tipptopp. Die Neurotransmitter-Lage ist gut. Die Hormonlage ist gut. Die Versorgungslage ist gut. Mit 30 sieht die Welt langsam bereits anders aus, und mit 40 oder 50 entstehen neue Herausforderungen – da spreche ich aus eigener Erfahrung.

Was ein Körper kann und will, definiert sich auch darüber, ob jemand früh verunfallt oder schwer erkrankt ist, Gewebe und Strukturen zu Schaden kamen. Wenn das Körpersystem nicht mehr in der Lage war, entstandene Verluste auszugleichen, beschäftige ich mich als Chiropraktiker entsprechend später bei z.B. einem 30-Jährigen, der, sagen wir mal, mit acht Jahren einen Unfall hatte, mit anderen Ausgangsbedingungen als bei jemandem, der solche Unfälle nicht hatte.

Mein Standpunkt ist daher ganz klar: Je mehr Informationen wir zu Beginn einer Behandlung haben, desto besser. So kann ich eine vernünftige Anamnese und Diagnostik aufstellen. Darüber entsteht im Dialog mit den Patient*innen ein Verständnis, was für diesen Menschen durch chiropraktische Behandlungen bis hin zur Lifetime Care entstehen kann. Der Ausgangspunkt dafür ist unsere umfangreiche Erstuntersuchung.

Erstuntersuchung und Dialoge im Gehirn

Wie sieht die Haut aus? Wie die Augen, wie bewegt sich jemand? Wie kommuniziert jemand? Als Auftakt sind diese visuellen Eindrücke bereits sehr aussagekräftig. Dann folgen unsere technischen Untersuchungen. Wir vermessen den Zustand des autonomen Nervensystems, also die effektive und stattgefundene Stressbelastung. Wir schauen uns die statischen sowie die dynamischen Verhältnisse an, also wie sich jemand bewegt. Das bilden wir u.a. über die DIERS-Vermessungseinheit ab. Beidseitiges Blutdruckmessen ist dann ebenfalls ein Standard.

Bei Erwachsenen wird darüber hinaus immer ein Gesamt-Wirbelsäulen-MRT eingefordert, wenn nötig, verfügen wir dafür über ein gutes Netzwerk. Und natürlich ist es mir lieb, wenn Patient*innen Labordaten mitbringen. Wenn nicht, ist das auch bei uns im Portfolio.

Im Erstgespräch tauschen die vermessene Person und ich uns dann über die gemessenen Daten schon mal aus, um Auffälligkeiten ggf. auch aus der Biografie zu erklären. Dann folgen noch neurologische Tests und schließlich das erste Behandlungs-Setting. Hierbei sollen Patient*innen erst einmal spüren, wie es ist, die Bandscheibe wieder zu öffnen oder das Becken zu entwringen. Für manche ist das schon ein Game-Changer.

Aber Achtung, das kann täuschen: Aufgrund der Evolution unseres Körper-Hirn-Systems über Jahrmillionen sind auch Sicherungssysteme entstanden. Die treten in Dialog mit allem, was neu auftaucht. Unser Hypothalamus, als wichtige Entscheidungsstelle im Gehirn, bewertet die eingehenden Daten: „Okay, das war gut! Ich stelle mal die Muskelspannung und die Gelenkssituation überall anders ein.“ Aber die Kontrolleinheiten der Sicherungssysteme regeln dann auch mal gegen.

Vor und zurück

Das sogenannte Change- und Feedback-System will die Strukturen – gerade bei langjährigen Kompensationsprozessen – gern wieder in die vermeintlich bewährten Zustände zurückschalten. Deswegen ist eine kurzfristige Ist-Zustand-Aussage wie „Toll, tut gar nicht mehr weh“ trügerisch. Dieses Spiel beschäftigt mich chiropraktisch schon recht lange.

Daher mache ich nach der Erstuntersuchung exakt 10 chiropraktische Justierungen und dann die Zwischenuntersuchung. In der Regel ist für die meisten Menschen, die sich in Chiropractic Care begeben, in der Phase schon eine deutliche Verbesserung wahrnehmbar. In meiner Masterabschlussarbeit konnte ich das auch statistisch nachweisen: Der Schmerzzustand hat sich bei den allermeisten Befragten rasant und schnell gebessert. Aber die Überprüfung zeigte, dass es in den Strukturen bei den meisten nur kurzfristig besser wurde – und dann wieder alte Programmierungen griffen. Die liefen ja häufig über Jahre zunächst beschwerdefrei bei dem Versuch, Fehlstellungen bzw. Subluxationen zu kompensieren.

Dieses Phänomen haben auch die Palmers schon sehr früh beschrieben, unter anderem beim sogenannten „kurzen Bein“ (auch hierzu gibt es eine Podcast-Folge). Es kommt sehr wohl zu einer ersten Verbesserung der Statik. Alles richtet sich neu aus. Dann wirken die alten BackUp-Systeme.

Erst bei der immer wiederkehrenden Informationsgabe durch Justierungen, tatsächlich eine Art Software-Update mit Hilfe des Hypothalamus, werden alte Phänomene, wie Kompensationshaltungen, Stück für Stück neu programmiert.

Widerstand und Neuprogrammierung

Leider ist die schlechte Botschaft hier, dass unser Gehirn sehr hartnäckig ist. Kompensationsprogramme, die mal durch Verletzungen oder andere Traumatisierungen eingetreten sind, bleiben im Gehirn abgespeichert. Man kann sie definitiv nicht endgültig löschen, sondern nur bei Bedarf immer wieder überschreiben. Vor allem bei älteren Menschen, die schon lange ihre Probleme haben und diese natürlich schnell weghaben wollen, müssen wir sagen: „Das wird wahrscheinlich länger dauern.“

Daher dient die Nachuntersuchung als faktische Dokumentation, wie es der Substanz des Körpers geht. Alle Tests, die wir am Anfang gemacht haben, lassen wir nochmal ablaufen. Bei der ersten Nachuntersuchung ergibt sich so häufig schon ein klareres Bild der Daten:

  • Was hat sich verändert und was nicht?
  • Wie gut war die Adaption der eingespeisten neuen Informationen?
  • In welchen Bereichen hat das System gut funktioniert, ist die neurologische Anpassung besser, ist die Gewebesituation und die statische Situation besser?

Und alle zehn Justierungen folgt dann erneut eine Nachuntersuchung. Schließlich vergeht nach meiner Erfahrung mindestens ein Jahr, bis die Struktur – gerade in den gewichtstragenden Elementen – stabiler neu strukturiert und präpariert ist. Was wir dann sehen, ist die tatsächliche Anpassungsleistung des individuellen Systems.

Oft genug kommen zu diesem Zeitpunkt Patient*innen zu uns, die von ihrem persönlichen Umfeld mitgeteilt bekommen: „Du stehst ganz anders da. Du bist viel aufgerichteter.“ Aber wir wollen ja einen echten Datenverlauf sehen, der sich unterscheidet von dem, was ich subjektiv über meinen Schmerz empfinde oder wahrnehme. Gerade in Bereichen wie der Druckbelastung der Füße, der Gangmuster und so weiter lässt sich klar aufzeigen, wie gut beziehungsweise wie schlecht der Entwicklungsprozess gelaufen ist.

Mehr erreichen

Faktisch ist die zweite Nachuntersuchung häufig der eigentliche Ausgangspunkt, um von akuter Behandlung zur Planung der Zukunft für mehr Wohlbefinden überzugehen. Denn dann haben wir gemeinsam mit den Patient*innen in der Regel die ersten großen Kompensationsmuster neu programmiert und ggf. auch hilfreiche Vitalstoff-Kombinationen verordnet. Die sollen helfen, dass sich Knochen, Knorpel und Gelenksflüssigkeit erholen und dass ein Ausheilen biologischer Entzündungsprozesse im Körper unterstützt wird. Und dann ist es die individuelle Entscheidung zu sagen: „Okay, das lief gut. Ich entscheide mich für Lifetime Care.“

Ich selber bin davon überzeugt, dass es einen Dreiklang für das wirklich gute Leben gibt: eine vernünftige Liebesbeziehung, einen vernünftigen Job und eine*n gute*n Chiropraktiker*in finden.