Ein Cartoonbild auf dem eine Straße vom Gehirn zum Darm führt

Der Blick über den Tellerrand

In meiner Praxis steht Ameri­kanische Chiro­praktik im Fokus. Ohne jedoch ein ganz­heit­liches Ver­ständnis von Körper-Hirn-Prozessen kann keine sinn­volle Be­handlung funk­tio­nieren. Daher ist seit Beginn meiner Tätig­keit (in 2024 vor 30 Jahren) die Neugier auf diese Wechsel­beziehungen unge­brochen. Und das aus gutem Grund: Ohne bild­gebende Ver­fahren hätten wir keinen klaren Blick auf die echten struk­tu­rellen Voraus­setz­ungen, ohne Labor­werte keine aussage­kräftigen Belege für die Ver­sorgungs­lage des Körpers. Wie viel Einfluss unsere Stimmung auf unsere Gesund­heit hat – und wie Chiro­praktik dabei unter­stützt – habe ich an anderer Stelle beleuchtet. Du bist, was du isst? Dazu zeigen zu­nehmend mehr Studien, wie gravierend sich die Zusammen­setzung und Stoff­wechsel­funktion des Mikro­bioms auf die Ent­wicklung von psych­ischen Stö­rungen aus­wirkt.1 Zeit, aktuelle Studien zu be­fragen, was wir über die schon seit Hippo­krates bekannte zweite Säule der Gesund­heit (Er­nährung) Neues lernen können.

Nähern wir uns dem Thema mit ein paar Grund­lagen. Darm­flora wird in der neueren For­schung Darm­mikro­biota genannt. Das fasst die Viel­zahl von Mikro­organismen zusammen, die für uns im Ver­dauungs­trakt wichtige Auf­gaben übernehmen. Bak­terien, Viren, Para­siten und Pilze – wir alle haben einen ganz indi­vi­duellen Mix. Ob wir ge­stillt wurden, wo wir auf­wachsen, was wir essen und wie wir leben, all das gestaltet diese persön­liche Arbeits­truppe aus. Sie steht unter anderem dafür gerade, wie gut unsere Darm­schleim­haut ge­schützt ist oder wie gut wir Lebens­mittel ver­arbeiten können. Gleich­zeitig stehen sie nach­weis­lich im regen Aus­tausch mit unserem Immun­system und Gehirn.2

Demenz­risiko und Abführ­mittel

Dass die Gehirn­gesund­heit und -an­passungs­fähigkeit hier mit ge­staltet wird, zeigt u.a. eine neue wissen­schaft­liche Arbeit aus dem März 2023. Darin wurde das erhöhte Demenz­risiko durch die Ein­nahme von Abführ­mitteln unter­sucht und als sig­ni­fi­kant be­stätigt. Wie kann das sein? Als Daten­autobahn zwischen Hirn und Darm dient vor allem unser Vagus­nerv. Gerät die Darm­mikro­biota aus dem Gleich­gewicht (Dysbiose), wird der Informations­austausch gestört und die Pro­duktion von Neuro­trans­mittern beein­trächtigt.3

Dabei gilt als nach­gewiesen, dass Abführ­mittel genau solche Stö­rungen ver­ur­sachen können. Sie würden die Barrieren des Darms für die Weiter­gabe von neuro­toxischen Stoff­wechsel­produkten in das zentrale Nerven­system senken und ent­zündliche Prozesse be­günstigen. Alles Prozesse, die im Kontext von Demenz­prophy­laxe ver­mieden werden sollten. Besonders brisant wird das, wenn dabei eine andere Zahl greift: 70 Prozent aller deut­schen Pflege­heim­bewohner*innen nehmen der­zeit regel­mäßig Abführ­mittel. 20 Prozent sind es unter der rest­lichen Bevölkerung.

Un­um­stritten ist: Gesunde Er­nährung und das richtige Maß an Be­we­gung können Abführ­mittel häufig über­flüssig machen. Mein Tipp – hört dazu auch mal in meinen Podcast zum Thema Er­nährung rein.

Das Wissen ver­schlingen

Kehr­seite des Ver­gessens ist Lernen. Auch dazu gibt es frisch aus dem September 2023 eine neue Studie.4 Darin wird nach­gewiesen, dass Darm­mikrobiota mit dem hippo­campus-abhängigen Gedächt­nis und Lernen über vier eng miteinander verknüpfte Haupt­wege interagiert:

    1. Über den Stoff­wechsel neuro­aktiver Subs­tanzen oder ihrer Vor­läufer z.B. Amino­säuren und Fett­säuren,
    2. über den Vagus­nerv,
    3. über den Ein­fluss auf Ent­zündungs­faktoren
    4. sowie über die Hypo­thala­mus-Hypo­physen-Neben­nieren-Achse.

Sie können inter­agieren und sich über­schneiden und nehmen so Ein­fluss auf die synap­tische Plas­ti­zi­tät des Hippo­campus. Zur Erinner­ung: Diese Hirn­struktur ver­arbeitet Ereig­nisse und be­wertet sie im Sinne einer kog­nitiven Karte, mit deren Hilfe wir uns bewusst erinnern.

Am Menschen wurde die Mikro­biota-Gehirn-Achse haupt­sächlich im Zusammen­hang mit poten­ziellen thera­peu­tischen Wirk­ungen der Mikro­biota auf das Wohl­befinden in Bezug auf stress­bedingte Psycho­patho­logie (z.B. Depression, Angst) unter­sucht. Belege für die Aus­wirk­ungen der Mikro­biota auf die Struktur und Plas­ti­zi­tät des Hippo­campus und damit zusammen­hängende Ver­haltens­weisen stammen aus Studien mit Nage­tieren. Sie zeigen klare Positiv­effekte bei der Lern­fähigkeit für Pro- und Prä­biotika. Aber auch beim Menschen legen Forschungs­ergebnisse nahe, dass prä­bio­tische Supple­mentierung die mit dem Hippo­campus zusammen­häng­enden kog­ni­tiven Fähig­keiten ver­bessern kann. Überein­stimmend zeigen Ver­öffent­lichungen, dass eine bei­spiels­weise anti­biotika­bedingte Dys­biose dagegen die Hippo­campus­funktion beein­trächtigt.

Veränderungen unterstützen

Was wir zu uns nehmen, ist also keines­wegs un­er­heblich. Sogar unsere in­tel­lek­tuelle Leistungs­fähigkeit ist an unseren Lebens- und Er­nährungs­stil gekoppelt. Wir sind dem nicht hilf­los aus­geliefert. Gesunde Ent­schei­dungen zu treffen, macht einen großen Unter­schied. Wenn beispiels­weise eine Er­krank­ung die Ein­nahme von Anti­biotika tat­sächlich not­wendig macht, können wir in der Praxis durch ge­zielte Pro­gramme dabei unter­stützen, die Darm­mikro­biota im Nach­hinein wieder ins Lot zu bringen.

Wenn eine schlechte (Konsum-)­An­ge­wohn­heit einfach nicht gehen will, zeigt die Ameri­kanische Chiro­praktik Wege auf, um Raum für den be­wussten Wandel zu machen. Schließ­lich ist das grund­sätzliche Ziel immer, das eigene Wohl­befinden sowie Reaktions- und Selbst­steuerungs­optionen von Gehirn und Körper best­möglich zu er­weitern.